Akkulturationsprozesse nach Deutschland geflüchteter afghanischer Frauen (1980-2018)

Akkulturationsprozesse nach Deutschland geflüchteter afghanischer Frauen (1980-2018)

Organizer(s)
Fatemeh Hippler / Francesca Weil, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V., Technische Universität Dresden
Venue
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V., Technische Universität Dresden; Thalia-Kino Dresden
Location
Dresden
Country
Germany
Took place
In Attendance
From - Until
08.05.2023 - 09.05.2023
By
Anita Karimi., Fachgebiet Iranistik, Philipps Universität Marburg

Seit den 1980er-Jahren sind Afghan:innen nach Deutschland eingewandert. Sie bilden insgesamt eine relativ kleine Gruppe in Deutschland, etwa eine Viertelmillion.1 Aber es gibt wenige Kenntnisse über das kulturelle und soziale Leben von ihnen, insbesondere von weiblichen afghanischen Migranten in Deutschland. Es liegen Berichte vor, in denen man die Anzahl der Migrant:innen, Arbeitsbedingungen oder finanzielle Abhängigkeit von der Bundesregierung nachvollziehen kann.2 Allerdings existieren nur geringe Informationen über die Akkulturation afghanischer Frauen in Deutschland. In der Forschung zur Akkulturation3 und zu Migrantinnen lassen sich auch grundlegende Lücken in den Studien identifizieren. Erstens wurde der komplizierte Hintergrund der Migrant:innen selten als Ermittlungsfaktor in den Migrationsforschungen berücksichtigt. Unterschiedliche Strategien wie Assimilation oder Marginalisierung wurden mit persönlichem Erfolg oder Misserfolg von Migrant:innen oder sozialen und politischen Kapazitäten des Aufnahmelandes begründet. Es ist notwendig, dem mehrdimensionalen Hintergrund von Migrant:innen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, zum Beispiel die Migrationsursache und der Zustand vor der Akkulturation (pre-acculturation situation). Zweitens haben manche Migrant: innen, insbesondere Afghan:innen lange Zeit in einem Dritt- oder Transitland gelebt. So lebten viele Afghan:innen vor der Anreise (seit 2015) nach Deutschland im Iran oder in Pakistan. Das heißt, sie haben sich schon einmal akkulturiert, bevor sie nach Deutschland kamen. Dieser Faktor muss bei der Erforschung des Themas Migrantinnen und ihrer Akkulturation in Deutschland berücksichtigt werden.

Der Workshop in Dresden stellte den Auftakt zum Beginn von Forschungen zur Thematik am Hannah-Arendt-Institut (HAIT) dar. Am Nachmittag des ersten Tages gab der Direktor des HAIT, THOMAS LINDENBERGER (Dresden) einen kurzen und präzisen Überblick über die Aufgaben und die Geschichte des Hannah-Arendt-Instituts. Eine Film-Vorführung mit Podiumsdiskussion führte am ersten Abend in the Thematik ein.

FATEMEH HIPPLER (Duisburg) ging in ihrem Vortrag auf die Akkulturation nach Deutschland migrierter afghanischer Frauen zwischen 1980 und 2018 ein. Ihrer Meinung nach könne die Akkulturationstheorie von John W. Berry eine gute Grundlage für die Beantwortung der Studienfrage(n) bieten. Nach Berry nimmt man durch Akkulturation die kulturellen und sozialen Elemente der Gastkultur an. Vier Kategorien beschreiben, wie sich Individuen oder Gruppen an eine neue Gesellschaft anpassen: Assimilation (Übernahme der Gastkultur und Ablehnung der Herkunftskultur), Separation oder Segmentierung (Ablehnung der Gastkultur und Beibehaltung der Herkunftskultur), Integration oder Mehrfachintegration (Übernahme der Gastkultur und Beibehaltung der Herkunftskultur) und Marginalisierung (Ablehnung beider Kulturen). Berrys Modell selbst könne in eine Gruppenebene und eine Individualebene unterteilt werden. Auf der Gruppenebene gebe es Untergruppen wie die Herkunftsgesellschaft, die Gruppenakkulturation und die Niederlassungsgesellschaft. Die individuelle Gruppe könne nach Alter, Geschlecht, Status, Migration, Erwartungen, Sprache und Persönlichkeit unterteilt werden. Fatemeh Hipplers weitere Forschungen werden zudem auf der Auswertung von Fragebögen und Interviews mit afghanischen Frauen beruhen.

Im Beitrag von FRANGIS DADFAR SPANTA (Duisburg / Essen) ging es um die kulturelle Zugehörigkeit und Identität der afghanischen Frauen, die in den Iran geflüchtet sind. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht die Untersuchung der mittlerweile vier verschiedenen Generationen afghanischer Frauen, die seit dem Beginn der sowjetischen Invasion 1979 kontinuierlich oder zeitlich begrenzt im benachbarten Iran leben, im Hinblick auf ihre Identitäten in der Kommunikation mit der iranischen Gesellschaft. Die zentrale Frage der Untersuchung lautete: Inwieweit haben die vier verschiedenen Generationen afghanischer Frauen im Iran eine neue Heimat gefunden oder möchten sie weiter in den euro-amerikanischen Raum auswandern? Die Methodentriangulation besteht aus der Auswertung vorhandener Forschungsliteratur, teilnehmender und offener Beobachtung der Jahre 2022 und 2023, der Auswertung strukturierter Interviews. Sie untersucht die vier verschiedenen Generationen afghanischer Frauen, die im Iran eine neue Heimat gefunden haben, und sie möchte die Gründe erforschen, aus denen sie in den euro-amerikanischen Raum auswandern wollen. Außerdem geht sie den Gründen für den Wunsch zu bleiben oder zu gehen nach, die mit den Identitätsbezügen und dem kulturellen Selbstverständnis der afghanischen Frauen zusammenhängen.

Anschließend referierte SAHRA KAMALI (Duisburg / Essen) über die kulturelle Zugehörigkeit und Identität afghanischer Frauen. In diesem Zusammenhang warf sie folgende Fragen auf: Wie bildet sich kulturelle Identität heraus und unter welchen Einflussfaktoren? Inwiefern spielt das Aufwachsen in einer bestimmten Kultur eine Rolle, wenn es darum geht, die eigene Identität zu finden? In ihrem Vortrag konzentrierte sie sich auf Benachteiligungen aufgrund des kulturellen Hintergrunds beim Zugang zu Bildung (Sprachkurse, Schule, Universität, Ausbildung und Weiterbildung), dem Arbeitsmarkt, zu Freizeitangeboten (Sport, Theater, Museen und Gaststätten) und Behörden im Ländervergleich. Sie berichtete, dass ein großer Teil der hochqualifizierten Geflüchteten in Deutschland, insbesondere Frauen, keine passende Arbeit zu ihrer Qualifikation finden würden, da die in anderen Ländern erworbenen Bildungstitel in Deutschland nicht ohne Weiteres anerkannt werden.

Schließlich trug SARAH NABIL (Frankfurt am Main) ihre Präsentation zu Kunst als Protest im Akkulturationsprozess vor. Sie ging davon aus, dass Kunst im Laufe der immer wieder als wirkungsvolles Instrument des menschlichen Ausdrucks und Kommunikation angesehen worden sei. Kunst sei aber insbesondere als eine Form des Widerstands gegen Unterdrückung, Ungerechtigkeit und kulturelle Hegemonie eingesetzt worden. Dies gelte auch im Kontext der Akkulturation, wo Kunst als Mittel zum Ausdruck von Dissens und zur Behauptung der Identität eine große Rolle spielen würde. Unter solchen Umständen könne Kunst als mächtiges Instrument dienen, um Widerspruch und die eigene Identität auszudrücken und Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen. Laut Nabil können Protestkunst dominante kulturelle Narrative in Frage stellen und zur Schaffung einer integrativeren und vielfältigen Kulturlandschaft beitragen.

SHOGUFA MALEKYAR (Heidelberg) referierte über die Sozialisation der afghanischen Frauen in Deutschland im Kontext von Lern- und Bildungsprozesse. Dabei konzentrierte sie sich auf die Lebensleistung afghanischer Frauen in Deutschland, wobei auch die Schwierigkeiten bei der Integration in die Aufnahmegesellschaft berücksichtigt wurden. Nach Ansicht von Shogufa Malekyar führte die Akzeptanz der neuen Situation trotz Verlust und Trauma zur Bereitschaft, Teil dieser neuen Gesellschaft zu werden und neue Wege zu gehen, was den Beginn der Akkulturation für diese Frauen bedeutete. Bildung spielt eine wesentliche Rolle in diesen Prozessen, da sie die Integration und Akkulturation in die Gesellschaft erleichtert. Sie schlägt vor, die soziokulturelle Kommunikation im Unterricht zu stärken.

Der nächste Referent, IMAMUDIN HAMDARD (Bonn), sprach über Frauen, Kultur und Bildung im ländlichen Raum Afghanistans. Er schilderte die Situation von Frauen hinsichtlich der Menschenrechte, Kultur, Bildung und wirtschaftlicher Situation in Afghanistan. Viele Hindernisse, wie dem langen Bürgerkrieg und dem lokalen Denken in einigen Gebieten, hätten dazu geführt, dass Frauen hauptsächlich für die häusliche Arbeit, das Kochen und die Kindererziehung zuständig gewesen waren und es bis heute sind. Viele Frauen seien sich ihrer Menschenrechte kaum bewusst gewesen, nur sehr wenige Frauen hätten zur Schule gehen oder eine Rolle in der Gesellschaft spielen dürfen. Zudem waren in ländlichen Gebieten fast keine afghanischen Frauen befugt gewesen, in persönlichen Angelegenheiten selbst Entscheidungen treffen zu können. Die meisten Frauen aus ländlichen afghanischen Regionen hätten in Deutschland mit Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, da viele individuelle Freiheiten, wie z. B. die Möglichkeit, eine Sprache zu lernen, schwer fielen. Die Integration in eine neue Gesellschaft sei für diese afghanischen Frauen nicht einfach gewesen.

In einer Abschlussrunde wurde sowohl über den am Vorabend gezeigten Film „Nasim“ als auch über die wichtigsten Erkenntnisse des Workshops diskutiert. Der Workshop profitierte von der gelungenen Mischung aus akademischen und künstlerischen Beiträgen und jenen, die die migrationspolitsche und soziale Praxis in den Blick nahmen.

Konferenzübersicht:

Thomas Lindenberger (Dresden): Begrüßung

Podiumsdiskussion zum Film „Nasim“
Katrin Eigendorf (Berlin) / Shikiba Babori (Köln) / Nasim Tajik (Düsseldorf) / Ole Jacobs (Berlin) / Arne Büttner (Berlin)

Francesca Weil (Dresden): Begrüßung

Fatemeh Hippler (Duisburg / Dresden): Akkulturationsprozesse geflüchteter afghanischer Frauen in Deutschland (1980-2018)

Sahra Kamali (Duisburg / Essen): Kulturelle Zugehörigkeit und Identität der afghanischen Frauen

Sahra Nabil (Frankfurt am Main): Kunst als Protest im Akkulturationsprozess

Shogufa Mir Malekyar (Heidelberg): Die Sozialisation der afghanischen Frauen in Deutschland. Lern- und Bildungsprozesse der Migrantinnen aus Afghanistan

Imamudin Hamdard (Bonn): Women, Culture and Education in Afghanistan Rural Area

Katja Berngruber (Leipzig): Herausforderungen in der Sozialarbeit mit Geflüchteten – aus dem Alltag in Gemeinschaftsunterkünften

Yalda Habibi / Habiba Mirsai (Leipzig): Zum Alltag geflüchteter Afghaninnen in Deutschland

Schlussbetrachtungen

Anmerkungen:
1 Vgl. Carolin Fischer, Afghanische Migration nach Deutschland: Geschichte und aktuelle Debatten. Hg. v. Bundeszentrale für politische Bildung, In: bpb.de vom 02.04.2019.
2 Vgl. Herbert Brücker/ Lidwina Gundacker/ Dorina Kalkum, Geflüchtete Frauen und Familien: Der Weg nach Deutschland und ihre ökonomische und soziale Teilhabe nach Ankunft. IAB-Forschungsbericht - Aktuelle Ergebnisse aus der Projektarbeit des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Berlin 2020.
3 Vgl. Hartmut Esser, Pluralisierung oder Assimilation? Effekte der multiplen Inklusion auf die Integration von Migranten. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 38, Heft 5, 2009 (10), S. 358–378.

Editors Information
Published on
Author(s)
Contributor
Classification
Temporal Classification
Regional Classification
Additional Informations
Country Event
Conf. Language(s)
German
Language